Der folgende Erfahrungsbericht ist anonym.
Name und Alter wurden abgeändert, der Text weitestgehend übernommen.
Danke für das Vertrauen und den Mut.
Triggerwarnung
Hey,
mein Name ist Marina. Ich bin 16 Jahre alt und Schülerin. Bis dahin eigentlich ein ganz normales Leben von einer Jugendlichen oder?
Na ja ich fange mal von vorne an. Im Alter von fünf Jahren und auch schon zuvor, wurde ich gleich komisch angeguckt, wenn ich auch nur den Mund aufmachte. Statt Schmetterling habe ich früher immer “Tetterling” gesagt. Ich schaffte es einfach nicht einen sinnvollen Satz über die Lippen zu bringen.
Im Kindergarten zog ich das erste mal Aufmerksamkeit auf mich und stieß deswegen auch auf Ablehnung. Eine “Freundin” von mir wollte sich nicht mit mir treffen, weil sie sich mit so einer sprachgestörten nicht treffen wollte. Ich habe meine Wut und Enttäuschung unterdrückt.
Meiner Meinung nach gab es im Leben keinen Platz für meine Gefühle und Gedanken. Ich wusste nicht mal, wie man darüber spricht, weil ich es einfach nicht gelernt habe. In meiner Familie bin ich das Sandwichkind. Meine große Schwester hat Diabetes und mein kleiner Bruder na ja der hat auch so seine Probleme. Da wollte ich bloß nicht noch mit meinen Problemen kommen.
Bei meinem Schuleintritt kam ich in eine spezielle Sprachförderschule. Es war ein kompletter Neuanfang für mich, da ich niemand kannte. Schnell fand ich mich ein und fühlte mich pudelwohl in meiner Klasse. Ich konnte immer besser sprechen. Nach der zweiten Klasse wechselte ich an eine andere Grundschule. Dort war ich nur ein Schuljahr. Heute weiß ich kaum noch, wie es mir da ging.
Nach der dritten Klasse zogen meine Familie und ich in die Nähe von Karlsruhe. Zuvor habe ich in Berlin gewohnt. Ich kam dort in die vierte Klasse. Meine Noten verschlechterten sich und ich fühlte mich einfach nur unwohl in meiner neuen Klasse
Ich selber nahm das Problem überhaupt nicht wahr und redete mir ein, es wäre alles okay. In der Klasse gab es täglich irgendwelche Sticheleien. Von meinen Mitschülern wurde mir ständig gesagt, was ich alles falsch machen würde.
Zum Glück hatte ich in der Klasse eine sehr aufmerksame Klassenlehrerin. Ihr fiel es auf, dass ich mich extrem unwohl fühlte. Sie redete mit meinen Eltern und ich wurde in eine dritte Klasse heruntergestuft. Ich wehrte mich, denn ich wollte dies nicht, aber letztendlich gab ich nach. Meine neue Klasse war eine sehr liebe Klasse. Doch meine ersten Vertrauensprobleme fingen an.
Ein paar Freunde aus Berlin entfernten sich immer mehr von mir. Mittlerweile habe ich zu niemandem Kontakt mehr. Sie gingen mir aus dem Weg, wenn ich mal in Berlin war. Mit meinem Kopf hing ich zu sehr in meiner Vergangenheit und gab meiner neuen Umgebung einfach keine Chance sich zu beweisen.
Nach der vierten Klasse wechselte ich aufs Gymnasium. Fünfte und sechste Klasse verstrichen. Aber ab der siebten Klasse ging es nur noch abwärts. Wir waren damals auf einer Klassenfahrt an der Nordsee. Eigentlich richtig schön wäre es da so geblieben wie alles war.

Meine beste Freundin wandte sich von mir ab. Ich fühlte mich alleine. Bis heute weiß ich nicht, was der Grund dafür war. Vielleicht lag es an der einen Mitschülerin, die wohl geeigneter als Freundin war als ich… Es ging mir einfach nur mies. Die Schmerzen fingen an. Ich wusste da noch nicht, dass dies der Beginn eines langen Leidensweges war. Meine Psyche quälte mich mit Nacken-und Kopfschmerzen. Zusätzlich hatte ich gerade auch noch meine lästigen Regelschmerzen. Den größten Teil der Klassenfahrt verkroch ich mich einfach nur noch ins Zimmer und blickte dabei zu, wie unsere Freundschaft immer mehr zerbrach.
Die Schmerzen begleiteten mich ab sofort so gut wie jeden Tag. Anfangs suchte ich noch nach den Ursachen, doch irgendwann gab ich es auf. Es folgten zahlreiche Arztbesuche. Ein Orthopäde meinte meine Schmerzen seien psychosomatisch. Ich fühlte mich abgelehnt und ab dem Zeitpunkt dachte ich mir, ich würde mir das alles nur einbilden. Ein Lehrer von mir fragte mich mal, ob mich etwas bedrückt. Er war der erste, der den Verdacht hatte.
Aber was sollte ich sagen, dass ich mich leer und schwach fühle? Ich habe nach einem Grund gesucht, warum es mir so schlecht geht. Ich habe gedacht, ich bräuchte einen Grund. Nach und nach erwähnte ich meine Schmerzen nicht mehr und ich machte es alleine mit mir aus.
Monate vergingen, mir ging es zunehmend schlechter. Abends heulte ich mich immer in den Schlaf. Ich verlor die Motivation. Mein Appetit schwand immer mehr. Meine Noten verschlechterten sich zunehmend. Ich hatte kaum noch Konzentration, meine Aufmerksamkeit sank. Und ich fing an mich selbst zu verletzen.
Mathe war eigentlich immer mein Lieblingsfach gewesen. Mein Lehrer kannte mich nur als einer und zweier Schülerin. Bei der nächsten Arbeit schnitt ich jedoch mit einer vier ab. Mein Lehrer war besorgt. Er war der einzige der merkte, dass es mir schlecht ging und der mich auch darauf ansprach. Es war der Lehrer, der den Verdacht mit meiner Psyche auch schon als erstes geäußert hatte. Ich sagte ihm, dass ich die Schmerzen immer noch hätte. Es folgten einige Gespräche mit ihm.
Es war eines nachmittags…
Suizidgedanken hatte ich da schon lange. Ich hatte mir ein Datum gesetzt und wusste schon genau wie ich es durchziehen wollte. Wir hatte an dem Tag bei dem Lehrer Nachmittagsunterricht gehabt. Ich war noch kurz auf der Toilette und hatte mich eingeschlossen und habe einfach nur geheult. Ich saß noch ein wenig mit einer Freundin da, ich wollte mich überzeugen, dass es sicher nichts mehr gab, was mich am Leben hält.
Der Lehrer sah mich und sprach mich aufmerksam an. In diesem Moment wurde mir bewusst. Ich kann mein Leben nicht beenden, wenn ich noch nicht alles versucht habe. Es folgten weitere Gespräche mit dem Lehrer. Am Ende des Schuljahres saß ich dann bei der Schulsozialarbeiterin. Immer noch hatte ich nichts von den negativen Gedanken erzählt. Ich weiß nicht, was mich gebremst hat. Meine Hoffnung verschwand wieder.
Kurze Zeit später fühlte ich mich wieder auf mich alleine gestellt und fasste wieder einen Plan. Im Februar 2020 schrieb ich meinen Abschiedsbrief.
An einem Abend hörte ich, wie meine Mutter weinte. Ich ging zu ihr und wusste nicht warum. Ich ging wieder in mein Zimmer. Mein Vater kam herein und legte den Brief neben mich. Alles war aufgeflogen. Meine Eltern hatten ihn gefunden. In dieser Nacht schlief ich nicht. Meine Mutter schlief bei mir. Ich glaube sie hatte Angst, dass ich mir was tue. Ich meine, war ja auch verständlich. Am nächsten Tag ging ich nicht in die Schule.
Meine Eltern brachten mich in eine Klinik auf die Akutstation. Ich blieb genau eine Woche danach noch zuhause und dann begann der 1. Lockdown. Ich lag die meiste Zeit einfach nur im Bett. Bei einer Therapeutin hatte ich einmal im Monat etwa einen Termin. Sie nahm sich kaum Zeit für mich.
Im Juli begann dann der stationäre Aufenthalt. Ich bekam die Diagnosen schwere depressive Episode, Somatisierungsstörung und Soziale Phobie. Die Begriffe waren mir egal, ich wollte nur eines und zwar, dass es besser wird. Und das wurde es schließlich auch. Im November ging es dann wieder nach Hause.
Ich bin nicht der Mensch, wie früher, aber der will ich vielleicht auch gar nicht sein. Ich habe gelernt, mit meinen Gefühlen und Gedanken umzugehen. Es gibt immer noch Tage, an denen ich denke, ich will nicht mehr. Aber mittlerweile weiß ich, es gibt immer einen anderen Ausweg als den Suizid.
Bei meinem Lehrer habe ich mich bedankt. Ich bin froh, dass es solche Menschen gibt. Ich weiß, dass er mir an diesem Tag das Leben gerettet hat. Der Kampf gegen meine Krankheiten geht immer noch weiter, aber ich weiß, es lohnt sich.
Ich will leben!